Es streikt(e) national.

In Ecuador ist die politische Situation derzeit etwas angespannt. Es wurde der Nationalstreik ausgerufen, Straßen im ganzen Land sind gesperrt, es wird protestiert. Uns in Mindo geht es gut, ich fühle mich hier auch sicher. Aber die Gesamtsituation ist brisant und ich möchte berichten. Und genauso plötzlich, wie das Ganze begonnen hat, ist es auch wieder vorbei. Nach 19 Tagen.

Angefangen hat das Ganze ein bisschen aus dem nichts, letzte Woche. Am 12. Juni, um genau zu sein. Erste Meldungen über Proteste in den großen Städten, die Hauptverkehrsadern des Landes sind gesperrt. Dann geht es relativ schnell: Die Hauptverkehrsroute nach Quito ist versperrt, man kommt nur mehr über die Alternativroute durch die Berge in die Hauptstadt. Immer wieder ergeben sich spontan Straßensperren, wo man jetzt wirklich hinkommt und wo nicht, weiß niemand so genau und es ändert sich jeden Tag. Wir beschließen in Mindo zu bleiben, hier ist es ruhig. Man bekommt nicht viel mit, außer vielen Videos und fehlendem Gemüse. Und ich frage aus politischem und journalistischem Interesse jeden Tag alle meine Kolleg_innen aus, was sie denn aus ihren Netzwerken mitbekommen haben und wie sie die Situation einschätzen. Das produziert sehr interessante Gespräche. Hier eine Zusammenfassung:

Warum wird protestiert?

Angestoßen wurden die Proteste von der Confederación de Nacionalidades Indígenas del Ecuador, kurz CONAIE. Das ist die Vereinigung der indigenen Volksgruppen. Sie sind diejenigen, die vom System am meisten benachteiligt sind und zugleich die größte revolutionäre Kraft haben. Wenn die Indigenen anfangen auf die Straßen zu gehen, dann steht das Land und es schließen sich ihnen und ihren Forderungen viele andere Kollektive und Gruppen an. So auch jetzt. Was sind also die Gründe für die Proteste?

Die Protestbewegung hat eine Liste von 10 Forderungen an die Regierung kreiiert:

  • Stabile, niedrigere Kraftstoffpreise. Derzeit kostet eine Gallone Diesel 1,90 Dollar, Diesel 2,55 Dollar. Die Forderung ist eine Senkung von 40 Cent/Gallone. Das Angebot der Regierung ist eine Senkung von 10 Cent.
  • Erleichterung zur Begleichung von Privatschulden. Während der Pandemie haben sich viele Leute schwer verschuldet, um sich das tägliche Leben zu finanzieren. Die Forderung ist, dass der Staat hier Erleichterungen und Hilfen schafft, um Pfändungen zu verhindern.
  • Kontrolle der Preise der landwirtschaftlichen Produkte. Ein guter Teil der Protestierenden ist in der Landwirtschaft tätig. Die Landwirt_innen bekommen immer weniger Geld für ihre Produkte, während die Preise in den Supermärkten steigen. Hier soll die Regierung stabilisierend eingreifen, so die Forderung. Außerdem soll es mehr Wertschätzung für die Landwirtschaft geben, die das Land ernährt. Die Regierung hat einen Gesetzesvorschlag angekündigt.
  • Eine Verbesserung des Arbeitsrechts und Beschaffung von Arbeitsplätzen
  • Die Eindämmung des Bergbaus und der Erdölförderung. Ecuador ist reich an Bodenschätzen. Allerdings ebenso an Naturschätzen über der Erdoberfläche. Erdöl und Mineralien werden teils in Naturschutzgebieten gefördert. Das führt nicht nur zur Zerstörung der Natur, sondern auch zu sozialen Konflikten (wie ich auch schon auf Radio Orange berichtet habe). Gerade im Amazonasgebiet, wo viele Indigene leben, ist die Erdölförderung ein großes Problem.
  • Die Einhaltung der 21 kollektiven Rechten wie interkulturelle zweisprachige Bildung, indigene Gerechtigkeit, freie, vorherige und informierte Konsultation, Organisation und Selbstbestimmung der indigenen Völker. Diese Rechte sind in der Verfassung verankert, da Ecuador ein plurinationales und interkulturelles Land ist.
  • Weniger Privatisierung. Hier in Mindo ist die Privatisierung von Wanderwegen und Wasserfällen ein Problem, auf staatlicher Eben geht es da eher um große Unternhemen wie die Banco del Pacifico oder Wasserkraftwerke, die privatisiert werden sollen. Die Protestierenden fordern einen Stopp dessen.
  • Schutz gegen Gewalt und Kriminalität. Diese nehmen leider in bestimmten Regionen immer mehr zu. Die Regierung soll Maßnahmen ergreifen, um organisierte Kriminalität zu stoppen.

Zusätzlich zu diesen Hauptpunkten haben sich den protestierenden auch schnell feministische Gruppen angeschlossen. Sie setzen sich für eine gerechte Entlohnung von Frauen und der Erlaubnis von Abtreibung und eine bessere Betreuung von Gewaltopfern ein. Außerdem machen sie auf die hohe Rate an Femiziden in Ecuador aufmerksam und fordern Präventionsmaßnahmen.

Ebenfalls angeschlossen haben sich die Student_innen und das Gesundheitspersonal, die Aufmerksamkeit, mehr staatliche Gelder und dringend notwendige Reformen in den jeweiligen Bereichen fordern.

Man sieht also, es ergibt sich ein sehr vielfältiges Bild der Proteste. Protestiert wurde ziemlich genau für dieselben Sachen schon Anfang November. Da gab es nach einigen Tagen eine Einigung mit der Regierung, doch die hat von den Absprachen bis jetzt nicht wirklich etwas umgesetzt. Daher also neue, umso heftigere Proteste.

Eine Chronologie

Angefangen hat das Ganze wie gesagt mit der indigenen Bewegung. Die Indigenen sind aus ihren kleinen Gemeinden in den Bergen in die großen Städte marschiert. In Quito steht schnell die ganze Stadt, ich bekomme auch Proteste bzgl. vieler anderer Themen mit. Die Polizei und das Militär stellen sich gegen die Demonstrant_innen. Das führt zu noch mehr Straßensperren, weil die Polizei sperrt, damit die Demonstrant_innen nicht durchkommen und umgekehrt.

Der Anführer der CONAIE, Leonidas Iza, wird kurzfristig festgenommen, am nächsten Tag aber wieder freigelassen. In einigen Städten gehen die Schulen wieder in den Online-Unterricht. Die UN bitten um die Einhaltung der Menschenrechte. Währenddessen eskalieren die Auseinandersetzungen in einigen Städten, die Polizei wirft Gasbomben. Die Regierung ruft den Ausnahmezustand aus. Das wird in den nächsten Tagen noch mehrmals ausgeweitet, zurückgerufen etc. Die Polizei und das Militär stürmen das Casa de Cultura, das Kulturhaus, in Quito. Das steht für eine freie und friedliche Ausübung der verschiedenen Kulturen und eine plurikulturelle Gesellschaft. Außerdem haben sich Demonstrant_innen dorthin zurückgezogen, um sich auszuruhen. Auch die Universitäten in Quito sollen solche Friedenszonen werden, die aber nicht immer eingehalten werden.

Präsident Lasso zeigt sich nach ein paar Tagen einigermaßen dialogbereit. Dann macht aber die Meldung die Runde, dass er Corona hat und deswegen wohl nicht zum Dialog erscheint. Unabhängig davon ruft er einen Tag später den gewaltsamen Widerstand gegen die Protestierenden aus. Eine Möglichkeit zum Dialog gebe es nicht. Das Ergebnis sind über diese Tage 8 Tote und über 300 Verletzte. Wir machen uns langsam ein wenig Sorgen.

Am Abend macht die Meldung über eine gewaltsame Attacke der Demonstrant_innen auf das Militär die Runde. Diese haben sich eigentlich sehr friedlichen Demonstrationen verschrieben und betonen das auch immer wieder. Die Vermutung liegt nahe, dass da eher eine Strategie dahinter steckt, um Demonstrat_innen zu kriminalisieren.

Der Dialog findet schließlich doch statt, zwischen den Anführer_innen der protestierenden Gruppen und einigen Ministern der Regierung Lasso. Der Präsident selbst erscheint nicht. Nach ein paar Tagen sehr unerfolgreicher Gespräche wird die ecuadorianische Bischofskonferenz eingeschalten und soll vermitteln. Das funktioniert aber anscheinend. Am 30. Juni scheint es zunächst noch, als würde sich die Situation noch weiter verschlimmern. Gegen Mittag machen aber auf einmal erste Meldungen über das Ende des Streiks die Runde. die wir alle nicht ganz glauben können, weil es so plötzlich kommt. Es wurde ein Friedensdokument aufgesetzt, dass die Regierung unterschrieben hat. Regierungsnahe Medien haben daaufhin sofort ein Ende des Streiks propagiert. Tatsächlich haben die Protestierenden einige Stunden später auch unterschrieben, vorher noch ein paar Änderungen in das Dokument reklamiert. Die Regierung hat nun 90 Tage Zeit, um bestimmte Änderungen und Verbesserungen umzusetzen.

Stimmungsbilder

Die Meinungen über die Proteste gehen auseinander und sind so vielfältig und interessant wie die Personen dahinter. Folgend ein Auszug aus verschiedenen Gesprächen:

“Das wird nichts ändern, zu viele riskieren unnötig ihr Leben”, meint eine Freundin. “Aber das ist die einzige Möglichkeit, reden und schreiben bringt nix.”, meint wiederum ein anderer.

“Die Regierung stürzen bringt auch nichts, es kommt nichts besseres nach.” Meine Bekannten, die die Petition gegen den Bergbau gestartet haben, wollen lieber mit Petitionen und Gesetzesänderungen vorgehen. Sie meinen außerdem, dass es schwierig ist, wenn alle in einen Topf geworfen werden: Verschiedene Protestbewegungen, Interessensgruppen und Kollektive, gleichgesetzt werden mit den paar gewaltsamen Menschen, die es auf Demonstrationen immer gibt. Das bringt der Sache nichts.

“Demokratie funktioniert hier in Lateinamerika nicht, zu viele kleine, abgeschiedene Völker und Gemeinden, für die der Staat nichts tut und die für den Staat nichts tun. Die Gesetze wurden von den Kolonialisten gemacht, wir leben jetzt danach anstatt unsere eigenen zu machen.”

In Kolumbien wurde zum Ersten mal ein eher linksgerichteter Präsident gewählt. Das wird ringsrum groß bejubelt. Ein Freund aus Kolumbien sagt, dass sei ein Erfolg der letzten 200 Jahre.

In meinem sonst locker-lustigen Freundeskreis ergeben sich um die Zeit auch sehr ernste politische Diskussionen. Ob Lassos Wahl mit rechten Dingen zugegangen ist? Man weiß es nicht. Jedenfalls hat sich der Kandidat der liberalen indigenen Partei, Yaku, ungleich großer Beliebtheit erfreut. Präsident geworden ist er dann irgendwie nicht. Wählen gehen ist in Ecuador übrigens verpflichtend. Wählt man weiß, wird die Stimme der Mehrheit zugeordnet. Malt man irgendwas auf den Wahlzettel, streicht durch oder sonst etwas, wird die Stimme ungültig gewertet.

Generell nehme ich in meinem Bekannten- und Freundeskreis eine recht große Politikverdrossenheit war. Die Regierenden werden mit verschiedensten Schimpfwörtern bedacht, als korrupt bezeichnet und tun wenig für das Wohlergehen der Bevölkerung. Und wenn man sich das Sozialsystem und die Korruptionsskandale der letzten Jahre ansieht, kann man das nicht einmal bestreiten.

Und was machen wir?

In der eigenen kleinen Welt von Mindo bekommt man wieder einmal nicht viel mit. Es fahren keine Busse, ins Nachbardorf kommt man mit Glück noch. Wir nutzen die Zeit ohne Tourist_innen, um Ausflüge zu machen. Die Arbeit in SALEM läuft normal weiter. In Mindo gibts kein Gemüse mehr, und dann doch wieder, aber keine Avocados. In Cuenca gibts kein Gas, es fahren keine Busse. Man weiß nie, wie weit man kommt. Meine geplante Reise musste ich absagen.

Das Problem mit den Lebensmittelpreisen verschlimmert sich. Ein Salatkopf kostet 2 Dollar, erzählt Fernanda entsetzt. Vorher waren das 25-30 Cent. Ein Zusammenspiel aus den ohnehin gestiegenen Preisen und der Gemüseknappheit durch die blockierten Verkehrswege. Der Gemüsepreis ist überall um Mindestens das Doppelte gestiegen. Unter Einbezug der ecuadorianischen Kaufkraft fatal.

Gleichzeitig wird aber Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft großgeschrieben. Eine Kollegin telefoniert eine Runde herum, ob uns jemand Gemüse spenden möchte für die Kinder. Eine Stunde später haben wir genug für die ganze Woche. Obwohl sich die Kinder über ein Mittagessen ohne Salat eh gefreut hätten. Eine andere Kollegin hat in ihrem Haus eine Friedenszone eingerichtet und Protestierende aufgenommen. Sie bittet um Kleiderspenden und Hygieneprodukte. Bekommt sie, jede_r hat irgendwas was er_sie nicht mehr braucht.

Erleichterung, als die Meldungen über das Streikende die Runde machen. Sule fährt nach Quito, um ihre Familie zu besuchen. Sebas besucht uns aus Guaranda. Maja plant, ihre Geburtstagsparty am Strand nachzuholen. Ich überlege, wann ich meine Urlaubswoche nehme. Alles passiert auf einmal, nach dem langen Stillstand. Ich hoffe, er hat etwas gebracht und die Forderungen werden auch wirklich umgesetzt.

weiterführende Infos (Spanisch): wambra.ec

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