Irgendwann, da werde ich mich an das hier erinnern. Ursprünglich hatte dieser Artikel den Titel “Irgendwann, werde ich das hier vermissen.” Aber dann bin ich draufgekommen, was ich tun werde, wenn ich das alles hier vermisse: Ich werde mich erinnern. Vielleicht werde ich mich schmerzlich erinnern, vielleicht werde ich mich gemeinsam mit lieben Leuten erinnern, vielleicht werde ich mich heulend über Fotos erinnern. Wenn ich alles das vermisse. Alles was jetzt schön ist und auch alles, was mich jetzt nervt. Denn irgendwann, da werde ich nicht mehr hier sein und mir von einem anderen Punkt der Welt vorstellen, wie es denn hier gewesen ist. Ob ich das dann noch nachfühlen kann?

Ich werde mich an SALEM erinnern.

Die Küche, wo man eigentlich nicht auf den Tischen sitzen darf und wo fast immer was zu essen da ist. Wo in der Nacht Kakerlaken und Spinnen wohnen, die die Katzen dann fangen wollen. Wo es übers Wochenende auf unerfindliche Weise immer dreckig wird, auch wenn ich garnicht immer koche. Der große Gasherd, vor dem ich am Anfang ein bisschen Angst hatte. Die Ordnung, die strikt eingehalten werden muss. Die Katzen, die jede mögliche und unmögliche Gelegenheit nutzen um in die Küche zu gelangen und die man jedes Mal rausschmeißen muss, wenn man diese verlässt.

Das Gelände, wo immer was los ist und es nie leise ist. Liegt das auch an Kindern, Koleg_innen, irgendwelchen Meetings, Hähnen, Kampfkatzen, Regen, Vögeln, was auch immer. Leise ist es nie. Privatsphäre hat man eigentlich auch nie. Dafür einen wunderschönen Garten, Bäume zum Klettern, das Dach zum Chillen und ganz viel Platz zum einfach sein. Wenn nicht gerade überall andere Leute sind.

Die Strom- und Wasserausfälle, die mich manchmal in den Wahnsinn treiben und manchmal aber auch einfach Alltag sind. Und mich immer wieder daran erinnern, wie einfach man mit Problemen umgehen kann.

Die Kinder, die nach SALEM kommen, “Julia”-schreiend den steinigen Weg zum Comedor hochlaufen und mich umarmen.

Der Musikunterricht, der schon richtig gut läuft und mich jedes Mal wieder glücklich macht und stolz auf meine Schüler_innen.

Das kleine Zimmer, das Rückzugsort für mich und auch alle Katzen ist, in dem immer ein Chaos von mindestens 4 Brunos herrscht und man nie was findet.

Die Social-Media-Arbeit mit Felix, bei der wir uns so gut wie nie einig sind und im Endeffekt trotzdem was Gutes rauskommt.

Ich werde mich an die Tiere erinnern.

Die Hühner, die ich täglich in der Früh rauslasse und am Abend wieder einsperre. Denen ich mit den Gummistiefeln durch den Matsch nachjage, wenn sie sich nicht fangen lassen.

Die Katzen, die ich so sehr lieb gewonnen habe. Die kleine Rosalia, die gerade jetzt wieder in meinem Arm liegt und schläft. Mit den Worten „Julia, da hast du dein Kind“ drücken die Kolleg_innen sie mir mittlerweile in die Hand, wenn sie etwas angestellt hat. Butterbrot, die gerade draußen herumgeschrien hat und jetzt wahrscheinlich irgendwo im Circulo schläft. Michu, die fette Katze, die immer noch nicht hochgenommen werden will und einfach die dümmste und lustigste Katze der Welt ist.

Die Kater, die nur zu oft ein nächtliches Konzert abhalten und dann eine Portion grantige Julia abbekommen. Oder eine feministische Erklärung, dass sie unsere Katzen in Ruhe lassen sollen.

Die Kolibris und Schmetterlinge und Guatusus, die ich im Garten beobachten kann und manchmal gar nicht mehr genau hinschaue. Die ecuadorianische Artenvielfalt hat mein Hirn mittlerweile als normal abgestempelt. Schön ist sie trotzdem.

Ich werde mich an die Leute erinnern.

Mein Freundeskreis, bestehend aus Leuten die alle irgendwie unter unterschiedlichsten Umständen hier in Mindo gelandet sind. Oder schon immer da waren. Jedenfalls sind wir eine coole Truppe mit vielen doofen Ideen, die sich gegenseitig unterstützt und für gute Gespräche da ist.

Das chaotische Fortgehausmachen. Weil irgendwie alle bis 10 arbeiten und vorher eh keiner irgendwas tut. Und am Schluss eh wieder alle in der Stammbar landen.

Das Team von SALEM, jung, offen und multikulturell. Ich bin immer wieder beeindruckt wie viele Personen mit unterschiedlichen Geschichten und Fähigkeiten wir hier an einem Ort vereinen.

Die gemeinsamen Reisen, die man früh und motiviert startet und spätestens nach 2h nur noch genervt ist vom Bus fahren und der Musik, oder im Bus gezwungen wird einen Film zu schauen. Aber im Endeffekt kommt man vielleicht irgendwann an und hat eine geile Zeit. Hatten wir bis jetzt immer.

Die spontanen Ausflüge und dumme Aktionen, die nur zu gut auf diesem Blog dokumentiert sind.

Ich werde mich an das Wetter erinnern.

An die Unmöglichkeit, meine Füße sauber zu halten, weil der ganze Garten Matsch ist und der Hühnerstall sowieso.

An die Gummistiefeln, die zu meinem Lieblingsaccessoire geworden sind, das ich gar nicht mehr hergeben möchte.

An Regenfälle, bei denen ich mir 3x überlege ob ich jetzt wirklich in die Küche muss, weil ich gebadet dort ankomme. Aber eigentlich ist es auch egal.

Aber auch an sonnige Tage auf dem Dach und Sonnenuntergänge, die einfach increible sind.

Ich werde mich an Mindo erinnern.

Die kurzen Wege, wenn ich jemanden sehen möchte. In 5 Minuten bei dir? Klar, bin gleich da. Die Freund_innen mal kurz in der Arbeit besuchen, schnell mal Schlüssel abholen und den Hund spazieren führen, oder einfach mal durchs Dorf rennen jemanden suchen. Weit kann er oder sie ja nicht sein.

Die Berge, die manchmal scharf zu sehen sind und dann wiederum komplett im Nebel verschwinden. Die Möglichkeiten zum Wandern und genießen bieten, die man sich daheim nicht vorstellen kann. Und die mich einfach immer wieder daran erinnern, wie schön es hier ist.

Der Fluss, mein Nachdenkort, der einfach immer saukalt ist und mich trotzdem immer zum baden einlädt. Egal ob mit Badeanzug oder in kompletter Montur oder mit Jägermeister.

Die Wasserfälle, unsere versteckten, die wir im ersten Monat als überglücklicher Expeditionstrupp entdeckt haben und seitdem alle Freund_innen und Bekannten zum Hochklettern animieren. Das Baden in den Wasserfällen, in Mindo und auf Reisen, für das einen in Österreich wohl jeder für verrückt erklären würde.

Das Dorfleben. Wenn ich im Zanguan namentlich durchs Mirko begrüßt werde und 15 Leute dort sind, die ich kenne. Wenn ich beim Spazieren gehen ein paar von unseren Kindern treffe und sie mich umarmen und an die Musikstunde morgen erinnern. Wenn ich an jeder Straßenecke stehen bleiben kann und mit irgendwem quatschen, weil man mich kennt und ich die Leute kenne. Und wenn Felix mir beim Frühstück erzählt, mit wem ich gestern Abend spazieren war, weil ihm das schon drei unterschiedliche Leute erzählt haben und es vermutlich auch sechs Fotos davon gibt. Dorfleben halt.

Ich werde mich ans Blogschreiben erinnern.

An die Möglichkeit, alles Aufzuschreiben und zu Dokumentieren, was so passiert, damit ich es festgehalten habe.

Irgendwann, da werde ich mich an das alles erinnern. Und dann? Was werde ich dann machen?

2 Kommentare

  1. Hallo Julia
    Das liest dich alles so ganz anders als hier und jetzt. Erinnert viel an die Sommerferien vor mehr als 60 Jahren bei meinen Großeltern im Waldviertel.
    Toll, was di dort so alles erlebst.

  2. Danke für die vielen schönen Bilder, die du mir in den Kopf gezaubert hast! <3

    Kann mir so gut vorstellen, dass du in einigen Jahren deinem Vergangenheits-Ich auch das ein oder andere Danke für all die tollen Gedächtnisstützen aussprichst 😀

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