Der Fluss ist jetzt da, wo letztens der Weg war. Der Weg? Irgendwo daneben, oder eben mal durch den Fluss. Dort ist ein Hang abgerutscht und wir müssen überlegen, wie wir da jetzt hinkommen. Die umgestürzten Bäume waren letztes Mal auch noch woanders. Die Natur hat Kraft. Kraft für Veränderungen. Kein Stein bleibt auf dem anderen, kein Baum ewig dort stehen, wo er ist, kein Flusslauf gleich.
Wir waren wieder mal unterwegs zu den Wasserfällen. Und die sind jedes Mal wieder ein Erlebnis, weil man nie weiß, was man finden wird. Besonders jetzt, in der Regenzeit, verändert sich der Wald schnell. Einfach mal irgendwas überflutet, weggespült, woanders aufgetaucht. Und genau wie die Wasserfälle verändert sich in Mindo auch alles. Ich werde mich verändern, haben zu Beginn des Freiwilligeneinsatzes alle gesagt. Aber das fällt in diesem ganzen Veränderungschaos gar nicht so auf.
Menschen kommen und gehen, mal geplant, mal unvorhersehbar und plötzlich. So wie Abhänge auf einmal rutschen und Bäume, die dachten fest zu stehen, auf einmal mitrutschen. Dafür ergibt sich aber ein neuer Weg, der anders aussieht, ein Stückchen weiter unten. Man muss ihn nur finden und ausprobieren. Das ist manchmal sehr nervig. Kann nicht einmal etwas gleich bleiben? Nicht für zwei Monate? Ich schreie innerlich. Sobald ich mich an etwas gewöhnt habe, ist es schon wieder anders. Aber das Schreien bringt nix. Der Fluss schreit und tost auch, ob er das auch so nervig findet? Sein Lauf verändert sich stehts, mal weiter links, mal rechts, mal schneller, mal langsamer, mal mehr Wasser, mal weniger. Mein Leben gleicht so ein bisschen einem Flusslauf. Man weiß nie so genau, wo die nächste Abzweigung kommt, wo der nächste Wasserfall, wo der nächste Baum, unter dem man sich einen Weg graben muss.
Unser Badewasserfall ist schwer getroffen. Ein Baum ist hineingestürzt, das Becken halb mit Schutt gefüllt, man kommt beinahe nicht mehr zum Wasser. Ich bin ein bisschen traurig. Hier haben wir uns schon zu oft glücklich ins kalte Nass geschmissen. Eine freudigere Überraschung dann weiter oben: Das bisher verschüttete Becken des anderen Wasserfalls ist weitgehend freigeräumt, und lädt wunderschön ein zum Baden. Mit viel Wasser formt auch der Fluss eine wunderschöne Landschaft, die kleine Insel in der Mitte ragt noch aus dem Wasser, der Wasserfall ist zugänglich wie noch nie zuvor. Statt des anderen Badewasserfalls haben wir einen neuen bekommen, der fast noch toller ist. Ich genieße ihn, denn wer weiß, ob das Vergnügen von langer Dauer ist. Stürzt bald ein andere Baum um? Oder wird etwas freigeräumt? Manchmal muss man etwas aufgeben, um etwas Schöneres zu bekommen. Ist es das, was mit die Natur sagen will? Oder spielt sie einfach nach Lust und Laune mit riesigen Baumstämmen?
Ich klettere weiter nach dem letzten Wasserfall den wir kennen. Darüber ist noch einer, man sieht ihn mittlerweile klar, weil alles viel Wasser führt. Wie man hinkommt wissen wir immer noch nicht. Ich glaube immer noch, das unter diesem Erdrutsch mal ein Weg war. Und ich komme wesentlich weiter als im November, als ich das erste Mal versucht habe hier herumzuklettern. Die Erde hat sich gesetzt, der Untergrund wird fester. Vielleicht können wir hier bald einen neuen Weg schlagen, der weiter nach oben führt. Rund um den Berg müsste er führen, zum anderen Wasserfall. Mal sehen, ob das was wird. Oder es rutscht nochmal was ab, dann gehts gar nicht mehr weiter. Man weiß es nicht. Die Wasserfälle sind jedes Mal wieder ein eigenes Abenteuer.
Ich erinnere mich zurück, an Anfang September, als wir unsere erste Expedition hier herauf gestartet haben. An den zweiten Ausflug hier her, bei dem wir noch zwei weitere Wasserfälle entdeckt haben. Damals ist man bis zum ersten noch trocken gekommen. Mittlerweile watet man so durch den Fluss, dass sich meine Gummistiefel von oben anfüllen. Regenzeit eben. Dann sind wir irgendwann mit 30m Seil ausgerückt und haben die Wege besser gesichert. Die Diskussionen, ob wir an dieser Stelle wirklich ein Seil brauchen. Jetzt bin ich froh drüber, dass wir mehr Seile gespannt haben als wir damals für notwendig befunden haben, denn das viele Wasser macht die Kletterpartien doch um einiges rutschiger. Aber die Seile sind da und halten.
Ich schaue Fotos an, von den früheren Expeditionen. Der Wald noch dichter, der Fluss mit viel weniger Wasser, die Wege ein bisschen woanders. Ich habe mich auch verändert, fällt mir auf. Die Haare sind länger, die paar mehr Kilo auf den Hüften lassen sich auch nicht leugnen. Während ich am Anfang noch ehrfürchtig vor den Wasserfällen gestanden bin, kann ich jetzt gar nicht schnell genug zum baden drinnen sein. Die Kälte stört mich gar nicht mehr. Der Fluss, mein natürliches Habitat. Wasserfallduschen werde ich auf jeden Fall vermissen daheim.
Wo führen die ganzen Veränderung hin? Dann, wenn alle Hänge abgerutscht und fest geglaubte Bäume umgefallen sind, dann muss man erst recht einen neuen Weg suchen. Die Comfort Zone gibts dann nicht mehr, oder sie hat sich verändert. Das Ziel liegt irgendwo, mit der Machete in der Hand kommt man vielleicht hin. Mit Anstrengung. Die Comfort Zone zu verlassen ist nicht einfach. Aber manchmal schön. Ich krieche hier, manchmal freiwillig, manchmal gezwungenermaßen, Tag für Tag mehr daraus hervor. Bald startet meine erste Reise allein, nur für mich. Das ist nicht so Comfort Zone, aber ein riesiges Abenteuer. Ich freue mich schon drauf. Und ich fahre zu ein paar Wasserfällen, das ist dann wieder Comfort Zone.
Nicht nur zurück, sondern auch voraus blicken. Auf meine Reise, auf den Rest von meinem Freiwilligeneinsatz. Langsam auch auf Daheim. Das schleicht sich langsam wieder in meine Gedanken. Aber auch an ein Wiedersehen mit Mindo, welches sicher mal stattfinden wird. Die Wasserfälle werden da sein. Wie sie aussehen werden? Wie weit man kommt? Welche Wege wird sich die Natur zurückerobern, welche Neuen wird es geben? Wie wird der Flusslauf sein? Wird man überhaupt hinkommen, oder wird vorm Waldeingang ein Haus stehen und ein Zaun, weil hier alles Privatgrund ist? Ich werde es jetzt unterlassen, diese Wasserfallmetaphern auch noch auf das Leben umzulegen. Aber ich habe über die Monate hier gelernt nicht zu viel zu planen. Es kommt dann eh immer irgendwas oder alles anders. Sich einfach drauf einlassen. Die Welt spüren, wie das kalte Wasser des Wasserfalls. Drunter stehen, genießen, wissend, dass sich alles schnell ändern kann. Zum Besseren oder zum Schlechteren. Deswegen versuche ich bei Wasserfällen der Veränderung mittlerweile nichts anderes zu tun als mitzuschwimmen und zu genießen. Ob ich das schaffe? Manchmal. Aber ich werde immer besser. Auch besser darin, meine eigenen Wege zu schlagen und zu sehen, wo der Flusslauf mich hinträgt.